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Das chorische Ich - Chorsingen im Spannungsfeld zwischen Individualität und Gemeinschaft

Autorinnen: Eva Spaeth & Gudrun Luise Gierszal |


Wieviel Individualität dürfen wir leben und wieviel Zurücktreten des eigenen Ichs braucht es, damit Gemeinschaft gelingen kann?

Mit unserer Stimme bringen wir uns zum Ausdruck, sie verkörpert unsere Identität und repräsentiert den Klang unserer Einzigartigkeit. Künstlerisch interessant, berührend und kraftvoll ist es, wenn die individuelle authentische Ausdruckskraft einer Stimme und der Klang einer individuellen Persönlichkeit auf der Bühne für Zuhörer*innen erfahrbar und hörbar wird.

Und zugleich bedeutet gemeinsames Musizieren immer auch ein sich zurücknehmen, aufeinander hören, reagieren, sich einfügen mit seiner Individualität in ein Geflecht aus Geteiltem.

In diesem Spannungsfeld zwischen Individualität und Gemeinschaft, zwischen ICH und WIR bewegt sich der Prozess jeden gemeinsamen Musizierens. Es lassen sich aber auch eine Vielzahl an pädagogischen Fragen und Herausforderungen daraus ableiten: Was braucht es, damit wir die Kompetenzen erwerben, uns einerseits mit Mut mit unserer Stimme in seiner individuellen Ausdruckskraft zu zeigen und zugleich unsere Stimme in den Dienst eines gemeinsamen Klanges, eines musikalischen Werks zu stellen?

Chorsingen heißt im besten Falle in kreative Co-Kreation zu gehen: ich bringe mich mit meinem Potential und meinen bestmöglichen musikalischen und stimmlichen Ausdrucksfähigkeiten ein und verbinde mich damit mit anderen und deren höchsten Potential. Und aus der Verbindung der unterschiedlichen Stärken der Einzelnen entsteht etwas Größeres und Schöneres, als jede*r einzelne für sich hätte erschaffen können. Der (Chor-)Leitende hat dabei die Aufgabe die Stärken des Einzelnen zu entfalten und zugleich das größere Ganze im Blick zu behalten, um den Raum für das Gemeinsame zu halten und zu führen. Das ICH erfährt sich im Spiegel des WIR und erweitert seinen Erfahrungsraum vieldimensional – und doch bleibt es als „ICH“ existent: das chorische Ich.

 

Hier öffnet sich das Fenster zu drei verschiedenen Themenfeldern, die wir aus der Perspektive der Kinder- und Jugendchorleitung reflektieren wollen: 

1.) Wie kann ich in Kindern und Jugendlichen die Erfahrung stärken, dass die Gruppe und die Gemeinschaft der anderen eine Bereicherung meiner Lebenswelt sein kann, ohne dass sie mich in meiner Ich-Identität bedroht?


2.) Was bedeutet „Gruppe“ im musikalischen Sinne und wie kann ich das Empfinden und Gestalten eines gemeinsamen Klangraums bei Kindern und Jugendlichen stärken und fördern?


3.) Wie kann ich die Verantwortung für das große Ganze halten und den musikalischen Horizont der jungen Menschen mit denen ich arbeite, erweitern, ohne die/den Einzelne*n aus dem Blick zu verlieren?

 

Wie kann ich in Kindern und Jugendlichen die Erfahrung stärken, dass die Gruppe und die Gemeinschaft der anderen eine Bereicherung meiner Lebenswelt sein kann, ohne dass sie mich in meiner Ich-Identität bedroht?

Der Wunsch und das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit ist tief in uns Menschen eingeschrieben und kann als „anthropologische Grundgegebenheit“ verstanden werden. Die „Gruppe“ schenkte schon in früheren Zeiten Schutz und sicherte unser Überleben. Bedenkt man, dass sich auch heute im Grunde unser ganzes Leben in verschiedenen Gruppen abspielt, wird deutlich, dass der Wunsch nach Gruppenzugehörigkeit tief in uns eingeschrieben ist und unsere soziale Identität erschafft. Ja, selbst wenn der Mensch allein ist, so bleibt er in seinen Gefühlen, seinem Denken und Handeln auf andere Menschen bezogen.

Warum aber scheint es dann Kindern und Jugendlichen häufig so schwer zu fallen, sich in einer Gruppe einzufinden, den eigenen Platz zu finden, sich wohl und aufgehoben zu fühlen – also das Kollektiv als Bereicherung zu erfahren?

Wenn die eigene ICH-Identität durch die ICHs der vielen anderen oder durch die Leitung nicht mehr wahrnehmbar oder unterdrückt wird, gerät die eigene Identität in Not und muss sich schützen. Die Gruppe oder die Leitung kann dann zur Bedrohung werden.

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Wie kann nun aber Gruppe im positiven Sinne gelingen? Was sind die Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit ich bereit bin, die anderen wahrzunehmen und mich mit ihnen für das Gruppenziel ausreichend zu verbinden?

Es benötigt eine Leitung, die mir durch die gesetzten Strukturen Möglichkeiten gibt, mich thematisch auf die Musik einzulassen und darüber in den Kontakt mit meinen musikalischen Interessen und einem für mich relevanten potentiellen Wissenszuwachs zu kommen (ASPEKT DER BILDUNG).

Es erfordert eine Gruppe, die über gemeinsame UND musikalisch relevante Aufgaben miteinander in einen Arbeitsprozess gerät (ASPEKT DER KOOPERATION).

Und es braucht einen musikalischen Prozess, der mir immer wieder Gelegenheiten bietet, Zugang zu meinem eigenen Innenleben zu erlangen; dies erschafft in mir die Möglichkeit, mich in der Gruppe zu „zeigen“ und zugleich die Anderen in ihrer Selbstdarstellung zu registrieren und ihnen zu begegnen (ASPEKT DER BEZIEHUNG).

Dann entsteht ein Raum, in dem sich Kinder sicher fühlen, sich mit ihrem ICH zu zeigen und zugleich die Möglichkeit entwickeln, die anderen ICHs wahrzunehmen und ihnen Platz zu machen, damit etwas Drittes (das gruppeneigene NEUE) über diese Verbindung entstehen kann.

 

Was bedeutet „Gruppe“ im musikalischen Sinne und wie kann ich das Empfinden und Gestalten eines gemeinsamen Klangraums bei Kindern und Jugendlichen stärken und fördern?

Ich kann mich mit anderen musikalisch erst dann verbinden, wenn ich mich in meinem eigenen musikalischen Tun sicher fühle und die notwendigen musikalischen Kompetenzen in mir selbst erworben habe.

Konkret heißt das:

Ich kann erst in eine gemeinsame Tonschwingung, einen gemeinsamen Klang mit anderen eintauchen, wenn ich eine gefestigte Tonvorstellung und einen sicheren Zugang zu meiner Singstimme erworben habe.

Ich kann erst dann mit anderen gemeinsam einatmen und auf einen bestimmten Zeitpunkt pünktlich einsetzen, wenn ich zuvor die Fähigkeit erworben habe, allein mit mir selbst in Koordination zu kommen in Bezug auf meinen Atem, meine Stimme und meine Bewegungen.

Ich kann erst dann mit einem Ensemble in einem vorgegebenen Metrum im Timing pulsierend schwingen, wenn ich lernen durfte, mich selbst allein mit mir zu unterschiedlichen Metren koordiniert zu bewegen.

Wenn ich mich in meinen Kompetenzen sicher fühle, kann ich sie auch teilen und auf Impulse von außen flexibel reagieren. Bekommt ein Kind eine Aufgabe gestellt, die es von seinem musikalischen Entwicklungsstand noch gar nicht lösen kann, fühlt es sich unsicher. Es reagiert mit Rückzug, Ablehnung oder Störung.

Was heißt das nun für unser chorpädagogisches Handeln?

Wir dürfen genau hinschauen, was unsere jungen Chorsänger*innen schon können oder auch noch nicht können und davon unsere musikalischen Aktivitäten und Aufgabenstellungen ableiten.

Wenn ein Kind noch keine gefestigte Tonvorstellung und keinen sicheren Zugang zu seiner Singstimme hat, benötigt es noch mehr Zeit und Gelegenheit vielfältige Hörerfahrungen von gesunden, funktional gut geführten Singstimmen machen zu dürfen und Stimmexploration mit glissandierenden Klängen zu erfahren, die die Randstimmenfunktion wecken.

Wenn ein Kind noch nicht gemeinsam mit der Gruppe atmen und pünktlich einsetzen kann, braucht es noch mehr Koordinations- und Bewegungsaufgaben, die es erfahren lassen, wie Atem, Stimme und Bewegung miteinander in organische Koordination kommen. 

Wenn ein*e Sänger*in noch nicht exakt ein vorgegebenes Tempo abnehmen und mit der Gruppe im Timing mitschwingen kann, dann darf diese*r Sänger*in noch mehr Gelegenheiten erhalten, ganzkörperliche Erfahrungen mit den Antriebsqualitäten Fluß, Gewicht und Raum zu sammeln, die die Voraussetzung bilden, um in uns ein stabiles intrinsisches Verständnis von Metrum und Timing zu erwerben.

 

Wie kann ich die Verantwortung für das große Ganze halten und den musikalischen Horizont der jungen Menschen mit denen ich arbeite, erweitern, ohne die/den Einzelne*n aus dem Blick zu verlieren?

Der Blick auf den/die Einzelne*n ist entscheidend für eine beziehungsorientierte Haltung von pädagogischem Handeln und um individuelle musikalische Lernprozesse adäquat begleiten zu können. Verharrt der Blick des Leitenden jedoch nur bei der Vielzahl der Einzelnen, zerfällt die Sache, um die es geht und die eigentlich alle zusammenbringt: die Musik und das gemeinsame Singen.

Egal ob ein Kind aus eigener Entscheidung oder auf Grund der Entscheidung der Eltern an einem Singangebot teilnimmt oder die Rahmenbedingungen einer Institution dafür verantwortlich sind: alle im Raum eint dieselbe Erwartung, nämlich dass hier gesungen wird, denn dafür haben sie sich an diesem Ort und in dieser Gruppe zusammengefunden. Und dieses Versprechen müssen wir als Leitende einlösen und den Fokus auf dem gemeinsamen Thema setzen und halten.

Denn wenn um das eigentliche Thema „Singen“ herum nichts Interessantes, nichts Lustvolles, nichts Herausforderndes passiert, dann ist der Grund des Treffens abhanden gekommen und andere Stellvertreterthemen übernehmen den Platz. Wenn nicht mehr erkennbar und spürbar ist, dass das gemeinsame Singen im Zentrum dessen steht, warum wir uns treffen, entsteht ein Gefühl von Beliebigkeit. Und Beliebigkeit lässt Kinder beliebig agieren und vermehrt die Anteile an Unruhe, Langeweile und Widerstand auf der Suche nach dem Sinn sind, warum wir eigentlich hier sind.

Das Einfordern von musikalischer Qualität also, ein spürbarer inhaltlicher Anspruch, an das was wir hier tun, stärkt das „Warum“ und stärkt damit das WIR und das ICH in gleicher Weise. Es vermittelt allen: es geht um etwas, es ist nicht beliebig, was hier passiert, es ist nicht egal, welchen Ton ich gerade singe, wie oder wo ich atme, wie ich mein Instrument Stimme einsetze etc.

Diese Ausrichtung auf den Inhalt, auf das Warum, auf die Musik – gibt Sicherheit und Klarheit. Das WIR und das ICH verbinden sich über die Musik. Daher muss die Musik zentraler Ankerpunkt sein und sich Aufgabenstellungen und Themen für das ICH und das WIR daraus ableiten.

 

Chorsingen und Bedürfnisbefriedigung

Wie Chor in der Triade ICH (Individuum) – WIR (Gruppe) – ES (Thema) gelingen kann, lässt sich nochmal auf der Bedürfnisebene nach Klaus Grawe praktisch greifbar machen. Der Psychologe Klaus Grawe hat vier Grundbedürfnissen des Menschen definiert, die stetig nach Befriedigung streben:

  • Bindung

  • Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung

  • Lustgewinn und Unlustvermeidung

  • Orientierung und Kontrolle

Je höher die Konsistenz dieser vier Grundbedürfnisse ist, desto gesünder ist der Organismus laut Grawe. Dies gilt sowohl auf individueller Ebene des ICHs als auch in gleicher Weise auf kollektiver Ebene des WIRs.

Für den Kontext einer Chorprobe kann dies z.B. bedeuten:

Mein Bedürfnis nach Bindung wird erfüllt durch sich gegenseitig bestätigende Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern untereinander und zwischen den Gruppenmitgliedern und der Leitungsperson. Ich fühle mich gesehen, kann die anderen wahrnehmen und kann mich mit meiner Persönlichkeit einbringen.

Mein Bedürfnis nach Selbstwertschutz ist erfüllt, wenn das Kollektiv als Schutzraum erfahren wird, in dem ich mich erproben kann ohne mich bloßgestellt zu fühlen.

Zugleich streben wir nach Selbstwerterhöhung, d.h. ich möchte etwas hinzugewinnen in Form von Fortschritt, Lernen und Wachstum. Es braucht also auch Herausforderungen, die uns mit Stolz erfüllen, wenn wir eine Schwierigkeit gemeistert haben.

Mein Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung wird erfüllt, wenn ich während einer Chorprobe Aufgaben löse und Erlebnisse sammle, die mir Freude und Spaß bringen.

Mein Bedürfnis nach Orientierung und eigener Kontrolle können klare Rahmenbedingungen befriedigen, aber auch der musikalische Prozess als solches ist Orientierung und schafft Vorhersehbarkeit und Sicherheit.

 

Abschluss

Wenn wir also das Spannungsfeld zwischen ICH und WIR ausloten wollen, um den Prozess des gemeinsamen Musizierens bestmöglich zu gestalten, spielt eine Vielzahl an (gruppen-) psychologischen, sozialen, pädagogischen und musikalischen Komponenten eine Rolle.

Am Ende aber kann eine Gruppe nur so weit wachsen, wie es das Potential der anleitenden Person in Bezug auf ihre Musikalität, ihre musikalischen Fähigkeiten, ihre emotionalen Intelligenz, ihre persönlichen Reife, ihr Empathievermögen und ihre Reflexionsfähigkeit zulässt.   

Deshalb lohnt es sich als Leitungsperson immer wieder den Blick auf sich selbst zu richten und sich zu fragen: Wie kann ich wachsen? Wo kann ich dazulernen? Wo finde ich Inspiration, Weggefährten und Vorbilder für meine Arbeit und für die Weiterentwicklung meiner musikalischen und pädagogischen Persönlichkeit?

In diesem Sinne war das Symposium „JUNGE STIMMEN“ in Berlin wieder ein inspirierender Begegnungsort von Menschen, die sich im universitären Dialog zwischen Wissenschaft, Forschung und Praxis Fragen stellen und nach Wegen suchen, das kreative Potential von Kindern und Jugendlichen durch das gemeinsame Singen zu entfalten und Musik als Ausdruck von Freude und wertschätzendem Miteinander in der Welt spürbar und sichtbar zu machen.

 


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